Das Wort zum Sonntag - erschienen in: Der Sonntag 20.9.2020
von Pfarrer Walter Boës,
evangelische Lukasgemeinde Karlsruhe
Mit einem Regal voller Pokale und Medaillen hätte ich nicht gerechnet. So viel Sport und Wettbewerb hätte ich gar nicht bei ihr erwartet. Oder sitzt sie im Zimmer ihres Sohnes? Aber die alten Bildbände im Regal darunter sprechen dagegen.
Mein Blick schweift weiter. Zu acht sind wir in der Videokonferenz. Ich sehe spannende Tapeten, Schlafzimmerschränke, Ölgemälde, Unterhemden und Familienfotos.
Notgedrungen geben mir meine Gesprächspartner derzeit Einblicke in ihr Leben, die mir sonst verschlossen waren. Corona-Einsichten. Und ich lerne mein Gegenüber neu kennen, neu sehen. Eine ganze Welt, ein ganze Kosmos verbirgt sich in diesem kleinen Fenster auf dem Monitor meines Computers. Ein Geschenk. Nähe, Vertrautheit, Offenheit trotz der realen Entfernung.
Ich sehe auf das kleine Fenster rechts oben auf meinem Bildschirm. Da bin ich zu sehen. Was zeige ich meinen Kollegen?
Meine Laptopkamera zielt nach oben. An die Decke. Auf das kleine Dachfenster in meinem Arbeitszimmer. Schade eigentlich. Ob ich mich wohl so setzen kann, dass sie die Bilder und Postkarten erwischt, die meinen Schreibtisch säumen? Die Papierstapel auf dem Tisch, die will ich aber eigentlich nicht zeigen.
Vielleicht ist ja der Blick aufs Dachfenster gar nicht so schlecht. Vielleicht erzählt er ja doch etwas von mir und von dem, was mir wichtig ist, von jener Welt, von jenen Welten die sich hinter den Fenstern erschließen, die sich manchmal ganz unerwartet im Leben auftun: Himmelsfenster. Und manchmal öffnen die sich mitten in einer Videokonferenz.