Zweimal hinsehen Das Wort zum Sonntag - in: Der Sonntag, den 26.7.2020, Pfarrer Walter Boës
Das Wort zum Sonntag
von Pfarrer Walter Boës, evangelische Lukasgemeinde Karlsruhe
Ich muss zweimal hinsehen. Ein Augenpaar strahlt mich hinter der selbstgenähten Alltagsmaske an. Wer ist das? Die Augen kommen mir bekannt vor und doch wirken sie so anders. Dann fällt der Groschen. Und ich weiß, zu wem die Augen gehören. So hatte ich diesem Menschen noch nie in die Augen gesehen. Und noch nie so lange. Die Maske verbirgt. Und zugleich bringt sie etwas zum Vorschein, etwas in diesem Menschen, das ich noch nie gesehen hatte.
Ich muss zweimal hinsehen. Was ist das am Ende der langen blauen Treppe, die seit einigen Wochen auf der Fanny-Hensel-Anlage steht? Genaugenommen ist es gar keine Treppe. Sondern eines der Bilder der Ausstellung „Freude, schöner Götterfunken“ des Vereins „Kunst an der Plakatwand“, die den Grünstreifen zwischen Blücher- und Händelstraße regelrecht verwandelt haben. „High up“ heißt das Bild von Franziska Schemel. Zu sehen sind blaue Stufen, die nach oben auf eine Öffnung zuzuführen. Eine Person scheint in der Öffnung zu stehen. Eine Tür? Ich sehe näher hin: Die Plakatwand ist an dieser Stelle ausgeschnitten. Ich sehe hindurch. Auf den Baum dahinter. So hatte ich ihn noch nie gesehen. Das Bild verbirgt. Und zugleich enthüllt es etwas.
Samuel muss achtmal hinsehen als Isai ihm seine Söhne vorstellt. Einer darunter soll der neue König Israels sein. „Ein Mensch sieht, was vor Augen ist. Gott aber sieht das Herz an“, warnt Gott Samuel. Am Ende ist es der jüngste von acht Brüdern: David. Das Wesentliche liegt oft unter der Oberfläche.
Ich freue mich darauf, morgen wieder am High up vorbeizuradeln. Ich will anhalten und noch einmal hinsehen. Und wen ich morgen wohl hinter der Maske entdecken werde?